Sage, was du meinst
– und meine, was du sagst

Teil 2: Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit im Elternalltag

Sage, was du meinst - Teil 2

by Sophie Schönwälder | #Elternmantras

#Elternmantras nenne ich kleine Sätze, Zeilen oder Wörter, die ich mir im Elternalltag immer wieder selbst vorsage, und die mir dabei helfen, mit gewissen Situationen oder Emotionen besser zurecht zu kommen. In dieser Serie möchte ich einige davon mit euch teilen – auf dass sie auch euer Elternleben entlasten und bereichern können.

Heute widmen wir uns zum zweiten Mal einem #Elternmantra, das mir nicht nur in Elternangelegenheiten gute Dienste leistet: „Sage, was du meinst – und meine, was du sagst!”. Denn wenn wir uns genau beobachten, passiert es erschreckend oft, dass wir Dinge sagen, die wir eigentlich nicht so meinen und Dinge meinen, die wir gar nicht sagen – aus Unachtsamkeit, aus alter Gewohnheit, aus falsch verstandener Höflichkeit, aus Bequemlichkeit,… Letzte Woche haben wir uns Situationen angeschaut, in denen uns oft gar nicht bewusst ist, dass wir gerade etwas anderes sagen, als wir meinen. Heute wollen wir uns mit jenen Fällen beschäftigen, in denen es in unserer Erziehungskultur gang und gäbe ist, dass Eltern ihren Kindern schlicht und ergreifend nicht die Wahrheit sagen. Es wird euch nicht überraschen, dass ich in dieser Hinsicht den Standpunkt vertrete, dass unsere Kinder es verdient haben, dass wir mit ihnen ehrlich sind…

Eltern legen manchmal erstaunliche Kreativität an den Tag, wenn es darum geht, ihren Kindern einen Bären aufzubinden – sind mitunter noch stolz auf ihre tollen Einfälle – und denken leider in vielen Fällen überhaupt nicht darüber nach, wie sich Aussagen dieser Art langfristig auf die Beziehung zwischen ihnen und ihren Kindern auswirken… 

Unrealistische Drohungen

Manchmal stehen wir als Eltern mit dem Rücken zur Wand: Es ist uns aus ganz unterschiedlichen Gründen verdammt wichtig, dass unser Kind etwas bestimmtes tut – oder eben nicht tut, unser Kind zeigt aber nicht den leisesten Anflug von Kooperationsbereitschaft. Das fühlt sich so richtig bescheiden an. Wir fühlen uns macht- und hilflos und in unserem Wunsch oder Bedürfnis nicht wahrgenommen. Und wir haben keine Ahnung, wie wir unser Ziel erreichen können. Wenn wir in diese Richtung leicht getriggert werden, empfinden wir unter Umständen unser Kind als übermächtig und uns ihm hilflos ausgeliefert. Die perfekte Ausgangssituation für so einen richtig gepflegten Machtkampf. Mal sehen, wer der Stärkere von uns beiden ist!

Und alles nur, weil wir ihm die Zähne putzen wollen, und es hartnäckig die Lippen aufeinander presst. Oder weil wir bei der Spieleverabredung wollen, dass es aufhört, auf das Gastgeberkind hinzuhauen. Oder weil wir dringend vom Spielplatz nach Hause wollen, weil wir schon sooo dringend aufs Klo müssen. Oder weil wir das Chaos im Kinderzimmer nicht mehr ertragen. Oder oder oder…

Aus dieser Situation heraus rutschen uns dann oft unrealistische Drohungen über die Lippen:

Wenn du jetzt nicht die Zähne putzt, bekommst du nie mehr Gummibärchen!”, sagen wir dann. 

Oder: “Wenn du jetzt nicht sofort brav bist, gehen wir nach Hause und kommen nie wieder hierher!

Oder: “Wenn du jetzt nicht kommst, gehe ich alleine heim und du bleibst hier!           

Oder: “Wenn du jetzt dein Zimmer nicht aufräumst, bringt das Christkind keine Geschenke!

Wir denken nicht großartig nach, bevor wir diese Drohungen – typischer Weise entweder sehr laut oder in gefährlich leiser Stimmlage – hervorstoßen, aber bereits während wir sie aussprechen, ist uns völlig klar, dass wir sie nicht einhalten werden:

“Nie mehr” ist ein verdammt langer Zeitraum. Und wenn wir eine Familie sind, in der Gummibärchen immer wieder mal auf dem Speisezettel stehen, werden wir uns in drei Jahren bestimmt nicht mehr daran halten – ja mit hoher Wahrscheinlichkeit und gutem Grund nicht einmal mehr daran erinnern -, dass dieses Kind keine Gummibärchen bekommt, weil es ja damals dieses eine Mal nicht die Zähne geputzt hat. Realistisch betrachtet, wird es sogar nach drei Wochen, vielleicht sogar schon nach drei Tagen bereits ziemlich weit weg sein. 

Sind wir wirklich bereit, unsere Freunde nie wieder zu besuchen, nur weil sich unsere Kinder dieses eine Mal in die Wolle gekriegt haben?

Würden wir wirklich alleine den Heimweg antreten und unser Kleinkind zurücklassen, wenn es noch zu klein ist, um alleine nach zu kommen?

Und wer hat es jemals übers Herz gebracht, keine Geschenke unter den Weihnachtsbaum zu legen?

Es hat sehr gute Gründe, dass wir, wenn und die Beziehung zu unseren Kindern etwas wert ist, diese Drohungen nicht wahr machen werden. Mich beschäftigen aber drei Fragen: Wieso sprechen wir sie dann aus? Was meinen wir eigentlich, wenn wir diese Dinge sagen? Und was macht es mit unseren Kindern, wenn sie ständig mit diesen dramatischen, aber dann nie umgesetzten Drohungen von Erwachsenenseite konfrontiert sind?

Die erste Frage ist schnell beantwortet: Wenn wir mit solchen Drohungen operieren, dann mit hoher Wahrscheinlichkeit, weil wir sie selbst als Kinder auch zu hören bekommen haben und sie bei uns wohl doch das eine oder andere Mal auch funktioniert haben. Dass das System funktioniert, setzt allerdings eine Sache voraus: Dass unsere Kinder uns nicht zu hundert Prozent vertrauen. Denn wenn das Kind den Eltern bedingungslos vertraut, dann weiß es ganz genau, dass es bei ihnen sicher ist, dass sie es nie alleine am Spielplatz zurücklassen werden, und kann die Drohung gar nicht ernst nehmen. Wisst ihr, was ich meine? Eigentlich können wir jedes Mal, wenn es mit uns durchgeht und wir doch so eine unrealistische Drohung ausprechen, und unsere Kinder uns ins Gesicht lachen und sagen “Das machst du doch sowieso nicht!”, unser Kind in den Arm nehmen und sagen: “Du hast vollkommen recht! Das mach ich nicht. Und du weißt, dass ich es nicht mache. Und das ist gut. Danke für dein Vertrauen!” 

Und wenn wir uns bemühen, immer das zu sagen, was wir meinen, was könnten wir dann an Stelle dieser verbalen Drohgebärden sagen? Wir könnten zum Beispiel über uns selbst sprechen statt über unser Kind und ihm erzählen, warum wir es so eilig haben, vom Spielplatz wegzukommen, warum es uns so wichtig ist, dass wir das Kinderzimmer ohne Hindernislauf durchqueren können, und so weiter. Wir können sogar davon erzählen, wie es sich gerade für uns anfühlt, mit unserem Anliegen auf so großen Widerstand zu stoßen. 

Und was macht es mit unseren Kindern, wenn wir diese Methode regelmäßig anwenden? Aus meiner Sicht lernen unsere Kinder dadurch ziemlich verlässlich gleich mehrere Lektionen, die wohl kaum jemals so intendiert sind: Erstens: Es ist okay, die eigenen Interessen durch Machtanwendung durchzusetzen, anstatt gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Zweitens: Es ist okay, anderen Angst zu machen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Drittens: Wenn es um das Durchsetzen der eigenen Interessen geht, ist Ehrlichkeit ein dehnbarer Begriff. Viertens: Meine Eltern stehen nicht zu ihrem Wort. Sie kündigen Dinge an, die sie dann nicht umsetzen. Ich kann mich nicht auf sie verlassen. Die Lösung in diesem Punkt besteht übrigens nicht darin, all die an den Haaren herbeigezogenen Konsequenzen auf Biegen und Brechen doch umzusetzen, sondern darin, eben nur solche Konsequenzen in Aussicht zu stellen, mit denen ich auch gut leben kann, wenn sie tatsächlich eintreten. 

 

“Clevere” Lügen, um Kinder auszutricksen und Konflikte zu umgehen

Das geht in eine ähnliche Richtung wie die haltlosen und unrealistischen Konsequenzen, nur dass es noch einmal eine Nummer perfider ist, weil es meistens nicht im Affekt herausrutscht, sondern geplant und nicht selten systematisiert ist. 

Das Christkind oder der Weihnachtsmann, die nicht kommen, wenn das Kind nicht brav ist, fallen zum Beispiel in diese Kategorie. Besonders dann, wenn das System dann noch ausgebaut wird durch “elf on the shelf”-Figuren nach amerikanischem Vorbild, die in der Wohnung platziert werden, um das Kind zu beobachten und Listen über sein Wohl- und Fehlverhalten anzulegen. Oder Weihnachtswichtel oder -engelchen mit derselben Mission, die von den Eltern in die Gegend imaginiert werden, wann immer das Kind sich “daneben benimmt”, oder den gefürchteten Anruf auf des Weihnachtsmanns Geheimtelefon im Falle eines widerholten Vergehens… Ich könnte die Liste endlos fortsetzen. Irgendwann im Advent gibt es wahrscheinlich einen eigenen Artikel zu dem Thema. 

Aber auch in diversen Social Media stolpere ich immer wieder fassungslos über Posts und Threads, in denen Eltern sich schenkelklopfend über die haarsträubenden Unwahrheiten austauschen, die sie ihren Kindern so erzählen, um sich selbst das Leben leichter zu machen: 

Wenn ich eine Limonade trinke, erzähle ich meinem Kind einfach, da ist Alkohol drin, dann will es nicht kosten”, ist dann da zu lesen, und Hihi, ich mache es genauso mit Schokolade – endlich kann ich in Ruhe naschen, ohne was abgeben zu müssen!” oder

Wenn ich am Spielplatz genug habe und heim will, schau ich einfach demonstrativ auf die Uhr und sage ‘Ohoh! Der Spielplatz sperrt gleich zu! Wir müssen jetzt los, sonst werden wir eingesperrt!‘ ” – Genial! Das probier ich gleich heute aus!

Ich würde ja gerne mit dir ein Eis essen gehen, aber das Eisgeschäft hat leider nur am Wochenende geöffnet.” schlägt in eine ähnlich Kerbe wie Ich würde dich ja tragen, aber es ist verboten, so große Kinder zu tragen. Wenn ein Polizist uns sieht, müssen wir Strafe zahlen.

Auch diese Liste könnte ich leider endlos fortsetzen. Ich habe drei große Probleme mit dieser Art, Konflikte zu umgehen und Probleme zu vermeiden: Erstens finde ich es himmelschreiend respektlos, wenn Erwachsene die Leichtgläubigkeit ihrer Kinder ausnützen, um sie so schamlos zu belügen. Aus meiner Sicht haben unsere Kinder unsere Ehrlichkeit verdient. Zweitens tun wir unseren Kindern ja unterm Strich nichts Gutes damit, auch wenn es sich im Moment vielleicht so anfühlt, als wäre es die schonendere Variante, mit dem Thema umzugehen. Drittens sind all diese Lügen so gestrickt, dass die Kinder früher oder später herausfinden müssen, dass sie nach Strich und Faden belogen worden sind. Und sie lernen zwei Dinge: Dass sie den Worten ihrer Eltern stets mit einem gesunden Misstrauen begegnen müssen und dass es völlig legitim ist, haarsträubende Lügen zu erfinden, um sich das Leben leichter zu machen. Spätestens wenn diese Kinder in die Pubertät kommen, werden die Eltern ernten dürfen, was sie gesät haben…

Apropos: Besonders originell finde ich übrigens, wenn Eltern selbst Lügen erfinden, die ihnen dabei helfen, ihre Kinder beim Lügen zu erwischen. (“Ich habe meiner Tochter gesagt, ihre Nase wird rot, wenn sie lügt. Jetzt versteckt sie immer die Nase, wenn sie nicht die Wahrheit sagt.”) Das ist sowas von Meta und gleichzeitig so weit verbreitet, dass ich mich echt frage, ob niemandem auffällt, dass da irgendwie etwas nicht zusammen passt…

Ausflüchte und vorgeschobene Gründe

Kennt ihr das, wenn eure Kinder einen Wunsch oder ein Ansinnen haben, dem ihr nicht nachkommen wollt, aber weil ihr euch auf keine Diskussion einlassen wollt, erfindet ihr Ausflüchte oder vorgeschobene Gründe, die es leider ganz objektiv unmöglich machen? Und wenn ihr dann ein Kind habt, das so ähnlich gestrickt ist wie mein Großes, dann hat es einen sechsten Sinn dafür zu bemerken, wenn die angegebenen Gründe nicht die wirklichen sind, und bohrt nach oder räumt ganz kooperativ lösungsorientiert, wie es nun einmal ist, einen vorgeschobenen Grund nach dem anderen aus dem Weg, bis es endlich bei der Wahrheit angekommen ist. 

Ich durfte von meiner großen Tochter so auf sehr effektive Weise lernen, wie oft ich mich in Ausflüchte und vorgeschobene Gründe flüchte, wenn es zum Beispiel darum geht, dass ich etwas einfach nicht machen möchte, weil es meine momentanen Ressourcen nicht zulassen. Aber zu sagen “Nein, das machen wir jetzt nicht, weil ich total müde bin und mir das zu viel Action ist”, schien mir unzulässig, also sagte ich “Aber wir haben dies oder jenes nicht zu Hause, das bräuchten wir aber dafür.” Und wenn sie dann einen völlig plausiblen Ersatz für dies oder jenes vorschlug, wandte ich ein “Ja, aber ich kann dies oder das doch gar nicht.” Wenn das medienkompetente Kind dann sofort sagte “Schau doch mal ins Internet, dort gibt es bestimmt eine Anleitung”, gingen mir irgendwann die Argumente aus und ich musste zugeben, dass ich einfach gerade viel zu müde für ein elaboriertes Bastelprojekt war – was sie, anfangs sehr zu meinem Erstaunen, viel besser akzeptieren konnte als alles, davor, und wir konnten uns endlich darauf konzentrieren gemeinsam herauszufinden, was wir nun zusammen machen wollten. 

Falls ihr also kein Kind zur Verfügung habt, das euch so eine geduldige Lehrmeisterin ist, lasst mich diese Erkenntnis mit euch teilen: Die Wahrheit ist den Kindern zumutbar! Und gleich zum Punkt zu kommen und ehrlich und authentisch zu sagen, warum wir etwas nicht wollen, bedeutet eine unglaubliche Energieersparnis für beide Seiten. 

In diesem Sinne: Habt Mut ehrlich zu sein – mit euch selbst und mit euren Kindern! Aber seid nicht zu streng mit euch selbst, wenn es nicht von einem Tag auf den anderen klappt, euch von Angewohnheiten zu verabschieden, die euch vielleicht schon euer Leben lang begleiten! Denn alles ist ein Lernprozess, und das darf auch anerkannt werden. – Mehr dazu nächste Woche an dieser Stelle, beim nächsten #Elternmantra!

***Herzlichen Dank für die Illustration an Orsolya Fodor (@tamatea16 auf Instagram)***