Warum denn nicht?

Teil 1: Vom reflexhaften zum überlegten “Nein”

Audio Blog

Für alle, die lieber hören als lesen

#Checkfragen sind eng verwandt mit den #Elternmantras: Es sind Fragen, die wir uns in gewissen Lebenssituationen routinemäßig stellen können und die uns helfen können, einen Schritt zurück zu machen, die Situation aus einer anderen Perspektive zu analysieren, unsere Handlungen entsprechend dem Ergebnis anzupassen und damit unnötige Missverständnisse und Dramen zu vermeiden. Das bezieht sich nicht nur auf Elternangelegenheiten und klingt jetzt erstmal komplizierter, als es ist. Ich habe mittlerweile ein großes Repertoire an solchen Fragen – für Eltern- und andere Angelegenheiten, die mir das Leben erleichtern. Heute und in den kommenden Wochen beschäftigt uns eine Mini-Serie rund um das kleine Wörtchen “Nein”.

Kennt ihr das, wenn eure Kinder fragen “Mama, kann ich…?” oder “Papa, darf ich…?” und ihr erst einmal aus dem Bauch heraus “Nein!” sagt, ohne groß darüber nachzudenken.  Wenn eure Kinder ähnlich gestrickt sind wie meine, lassen sie aber nicht locker, sondern bohren weiter nach: “Warum denn nicht?” Und dann kommt ihr ins Stottern: “Puh… äh… weißt du, das macht man doch nicht…” Oder ihr sagt einen dieser Sätze, von denen ihr euch eigentlich geschworen habt, dass ihr sie nie zu euren Kindern sagen würdet: “Weil ich es sage! Deshalb!” zum Beispiel. Oder ihr denkt nochmal darüber nach und gesteht schließlich ein “Naja, eigentlich hast du recht. Es spricht nicht wirklich etwas dagegen. Na gut, du darfst doch.”  

Alles drei total übliche aber für Eltern auch tendenziell unangenehme Szenarien, die ich ganz leicht vermeiden kann, wenn ich vor jedem Nein, das ich ausspreche, diese Rückfrage bereits intern vorwegnehme, mich also zunächst selbst frage “Warum denn nicht?” Das beinhaltet sowohl die Frage nach meinen Gründen für dieses Nein als auch die Frage danach, was dieses Nein für mein Kind bedeutet. Manchmal geht es hier darum, Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen, manchmal darum, über den eigenen Schatten zu springen und überholte Muster oder Konventionen über Bord zu werfen und manchmal einfach darum einzusehen, dass es eigentlich keinen guten Grund gibt, “Nein” zu sagen. Und wenn wir doch bei unserem Nein bleiben, geht es darum, es für uns und unser Kind gut begründen zu können.

Nein-Umgebung und Ja-Umgebung

Die Ja-Umgebung ist seit einigen Jahren ein Stichwort, das sich in Bezug auf das Leben mit Baby mit erfreulicher Geschwindigkeit verbreitet: Es geht darum, sich selbst und dem Baby das Leben leichter zu machen und seinen erwachenden Explorationsdrang möglichst wenig einzuschränken, was sich wiederum nicht nur auf Babys Grundstimmung sondern auch auf sein Selbstwirksamkeitsgefühl und seine kognitive und motorische Entwicklung positiv auswirkt. Das passiert, indem man die Alltagsumgebung des Babys in eine so genannte “Ja-Umgebung” verwandelt. Sprich: Ich adaptiere die Umgebung und mein Mindset so, dass ich zu (fast) allen Ideen, auf die mein Baby in seinem Forschungs-, Entdeckungs- und Bewegungsdrang – und im Rahmen seiner aktuellen motorischen Möglichkeiten – so kommen könnte, erst einmal entspannt “Ja” sagen kann, und nicht ständig hinterher sein muss, um zu schauen, dass es sich nicht verletzt oder Dinge beschädigt, an denen mir etwas liegt.

Die hundertprozentige Ja-Umgebung im gesamten Lebensraum des Babys ist dabei eine nicht anstrebenswerte Illusion. Es wird immer Dinge geben, die einfach nicht gehen, und das ist auch okay. Es geht nur darum, die Anzahl dieser Einschränkungen zu reduzieren und zu überprüfen, welche einfach unumgänglich sind und welche eben aus dem Weg geräumt werden können, indem entweder die Umgebung entsprechend verändert wird oder die Eltern sich darüber klar werden, dass dieses oder jenes “Nein” vielleicht doch ein “Ja” werden könnte. Außerdem kann ich die hundertprozentige Ja-Umgebung sehr wohl auch in abgegrenzten Bereichen umsetzen, indem ich zum Beispiel das Kinderzimmer entsprechend gestalte.

Der Grundgedanke der Ja-Umgebung sollte aber nicht auf die sichere Umgebung für Krabbelbabys beschränkt bleiben, sondern uns – immer dem aktuellen Entwicklungsstand der Kinder angepasst – eigentlich ein Elternleben lang begleiten.Es ist die innere Einstellung, Ansinnen und Impulsen unserer Kinder stets erst einmal positiv gegenüber zu stehen und ein “Nein” nur bei echter Notwendigkeit und nach reiflicher Überlegung auszusprechen. So fördern wir wie in Babytagen weiterhin ihre Persönlichkeitsentwickung, ihren Entdeckungsdrang, ihre Selbstwirksamkeit, ihre Selbstbestimmtheit und ihr Selbstzutrauen. Und wir nähren in unseren Kindern die Gewissheit, dass wir ihre Impulse und Ansinnen generell gutheißen und begrüßen und sie in ihrer Entwicklung und ihrer Freiheit nur dann einschränken, wenn wir gute Gründe dafür haben.

Diese Gewissheit sorgt wiederum dafür, dass unsere Kinder wesentlich geneigter sein werden, die wenigen und begründeten Neins, die sie von uns bekommen, auch wirklich zu akzeptieren und ernst zu nehmen. Wenn ich hundert Mal am Tag “Nein!” hören würde – “Nein, du darfst nicht auf der Couch kraxeln!”, “Nein, der Polster darf nicht auf den Boden!”, “Nein, dein Spielzeug darf nicht auf den Tisch!”, “Nein, die süße Hundefigur ist nur zum Anschauen, nicht zum Spielen!”, “Nein, du darfst nicht im Pyjama auf die Terrasse!”, “Nein, du darfst im Haus nicht laufen, springen oder laut sein!” – dann wäre ich ungefähr gegen Mittag auch bereits so abgestumpft, dass das “Nein, du darfst nicht ohne zu schauen auf die Straße rennen!” Gefahr läuft, in diesem Hintergrundrauschen aus Neins unterzugehen und ebenso bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus zu gehen… Wenn ihr wisst, was ich meine… Oder wenn ich in der zweiten Autonomiephase (Pubertät) von meinen Eltern so ein strenges und willkürliches Regelkorsett aufgezwungen bekomme, dass ich gar keine Bewegungsfreiheit mehr spüre, kann es sein, dass ich in meinem Befreiungsschlag samt und sonders alles über den Haufen werfe, was meine Eltern an Verboten, Einschränkungen und Sorgen äußern – und mich in gefährlichen Situationen wiederfinde.

 

Die Nein-Na gut-Falle

Ein weiterer Aspekt, warum wir uns die Frage “Warum denn nicht?” besser stellen, bevor wir das “Nein” aussprechen, anstatt sie hinterher von unseren Kindern gestellt zu bekommen, ist das, was ich als “Nein-Na gut-Falle” bezeichne: Wir stellen uns vor, mein Kind kommt beispielsweise freudestrahlend über sein wunderschönes Outfit zu mir gerannt. Es trägt einen rosa Glitzerrock, dazu ein dunkelblaues Bagger-T-Shirt und den Katzenohr-Haarreifen vom letzten Fasching. (Über Anziehen und Selbstbestimmtheit bei der Kleidungswahl haben wir uns auch schon einmal Gedanken gemacht.) Ohne großartig nachzudenken, sage ich: “Nein, so kannst du nicht in den Kindergarten gehen!”, bevor ich mich selbst gefragt habe “Warum denn nicht?” –  stattdessen stellt mein Kind mir diese Frage. Jetzt habe ich drei Möglichkeiten:

Erstens: Ich schaffe es, meinem Kind für es plausibel und nachvollziehbar zu erklären, dass es seine beiden Lieblingskleidungsstücke nicht kombinieren darf, obwohl wettertechnisch nichts dagegen spricht, weil es nach Erwachsenenlogik einfach nicht zusammenpasst. Viel Glück dabei! Ich prognostiziere, dass ich dafür möglicherweise mit etwas Anstrengung und Hartnäckigkeit schmollende Akzeptanz erreichen werde, nicht aber echtes Verständnis. Davon, dass ich es gerade in seinem Recht auf Selbstbestimmtheit und in seiner Ausdrucksfreiheit eingeschränkt habe, sprechen wir jetzt erst einmal nicht.

Zweitens: Ich stehe um der Konsequenz Willen zu meinem Wort und bleibe hart, obwohl mir dämmert, dass ich eigentlich genauso gut “Ja” sagen können hätte. “Nein, weil ich es sage!” lautet dann die autoritäre Losung. Das fühlt sich wirklich ziemlich bescheiden an, hart bei einer Ansage zu bleiben, weil man das Gefühl hat, man kann nicht mehr zurück, ohne das Gesicht zu verlieren – obwohl man bei näherer Betrachtung ganz genau erkennt, dass sie eigentlich völlig haltlos ist. Und wahnsinnig anstrengend ist es auch, und zwar für beide, weil das Kind ja auch ganz genau spürt, dass jegliche Authentizität flöten geht, sich noch weniger auskennt und damit noch vehementer gegen dieses “Nein” protestieren wird.

Drittens: Ich denke nach und muss zugeben, dass es eigentlich objektiv ziemlich wenig gibt, das gegen dieses Outfit spricht, außer vielleicht meine Vorstellungen von Stil und Ästhetik. Bei näherer Betrachtung erkenne ich aber, dass das Selbstbestimmungsrecht und Ausdrucksbedürfnis meines Kindes hier schwerer wiegen als meine Stilvorstellungen. Also sage ich Na gut, wenn ich’s mir recht überlege, gibt es eigentlich keinen guten Grund. Du kannst so bleiben”. Das ist erst einmal die logische und authentische Reaktion, die ich in so einer Situation generell durchaus befürworten würde. Auch Eltern sind nur Menschen, können eine Situation falsch einschätzen und ihren Fehler dann wieder korrigieren, sich einmal irren, einmal schneller sprechen als denken oder sich von guten Argumenten überzeugen lassen. Das gesprochene Wort ist nicht in Stein gemeißelt, und das ist ganz gut so.

Problematisch wird es allerdings, wenn das “Nein“-“Na gut“-Spiel zu oft gespielt wird, wenn der Mund routinemäßig schneller ist als das Hirn. Damit entwickelt sich nämlich eine Dynamik, mit der jedes folgende Nein automatisch auf wackeligeren Beinen steht, erst einmal nicht für voll genommen, hinterfragt und auf Herz und Nieren geprüft wird, bevor es vielleicht doch irgendwann akzeptiert wird. Das ist auf Dauer anstrengend und unbequem für beide Seiten. Es entsteht also spannender Weise ein ähnlicher Effekt, wie ich ihn oben beschrieben habe, wenn Kinder mit zu vielen Neins konfrontiert werden – sie entwickeln eine gewisse Nein-Taubheit.

Ich muss mich aber nicht entscheiden, ob ich entweder diese Nein-Taubheit riskiere oder hartnäckig bei einem eigentlich nicht gerechtfertigten Nein bleibe, damit die Maxime “Nein heißt nein” (mehr dazu übrigens dann im (voraussichtlich) letzten Teil dieser Nein-Miniserie) aufrecht erhalten bleibt. Ich kann die Frage “Warum denn nicht?” nämlich einfach vorwegnehmen, die Diskussion im Kopf führen, bevor das Nein überhaupt ausgesprochen wird, und es dann entweder begründet doch aussprechen oder eben nicht.

Dieser Prozess kann übrigens ein bisschen Zeit benötigen, gerade am Anfang oder wenn die Fragestellung komplex ist oder mehrere Aspekte bedacht und abgewogen werden wollen. Wenn eure Kinder es gewohnt sind, dass sie von euch immer sehr schnelle Antworten und Reaktionen bekommen, kann das anfangs für Irritation sorgen. Unterm Strich werden es eure Kinder euch aber danken, wenn sie vielleicht etwas zeitverzögerte aber dafür belastbare Antworten bekommen.

Wie immer ist es auch hier sehr hilfreich, den Prozess offen anzusprechen und zum Beispiel zu sagen. “Ich hab dich gehört, du hast mich gefragt, ob du … darfst. Das ist gar keine so einfache Frage, lass mich einen Moment darüber nachdenken” oder auch einfach laut zu denken, das Kind an den Überlegungen teilhaben zu lassen und gemeinsam Für und Wider abzuwägen. Unser Kind lernt so unschätzbar wertvolle Lektionen: Darüber, Worte mit Bedacht zu wählen, Entscheidungen nicht übereilt sondern überlegt zu treffen, verschiedene Aspekte zu bedenken und abzuwägen und fundierte Entscheidungen zu treffen.

Das mag etwas übertrieben wirken, wenn es beispielsweise um die Entscheidung geht, ob das Kind jetzt ein Eis essen darf oder nicht, aber es ist einfach ein unendlich großes Übungsfeld, mit dem wir unser Kind auf die unzähligen Entscheidungen vorbereiten können, die es in seinem Leben noch fällen müssen wird. Und wenn wir am Ende eines solchen gemeinsamen Prozesses gemeinsam zu der Erkenntnis kommen, dass es das Eis besser nicht essen sondern für einen anderen Tag aufheben sollte, habe ich garantiert weniger Drama, als wenn ich einfach “Nein” gesagt hätte. Und wenn wir am Ende draufkommen, dass es das Eis ruhig essen kann, weil meine anfänglichen Bedenken zertreut wurden, auch gut, dann genehmige ich mir selbst auch eines ;).

Jetzt bin ich aber gespannt auf eure Erfahrungen! Wie oft und wozu sagt ihr so “nein”? Passiert es euch auch manchmal, dass ihr “nein” sagt und dann draufkommt, dass ihr eigentlich ruhig “ja” sagen können hättet? Ist euer Lebensraum eine Ja-Umgebung? 

Ich freue mich auf eure Geschichten und gerne auch Fragen und Anregungen in den Kommentaren!

Und schaut doch nächste Woche wieder vorbei, dann schauen wir uns in Teil 2 dieser Nein-Miniserie an, welche Gründe hinter unseren Neins stehen!

***Herzlichen Dank für die Illustration an Orsolya Fodor (@tamatea16 auf Instagram)***

Literaturhinweis: Ich kann nicht so viel über das Wort “Nein” schreiben, ohne auf Marc-Uwe Klings großartiges Kinderbuch “Das Neinhorn” hinzuweisen ;).