Es ist ein Lernprozess!

Teil 1: Eine Runde liebevolle Anerkennung für die Lernprozesse unserer Kinder, bitte!

Es ist ein Lernprozess! - Teil 1

by Sophie Schönwälder | #Elternmantras

#Elternmantras nenne ich kleine Sätze, Zeilen oder Wörter, die ich mir im Elternalltag immer wieder selbst vorsage, und die mir dabei helfen, mit gewissen Situationen oder Emotionen besser zurecht zu kommen. In dieser Serie möchte ich einige davon mit euch teilen – auf dass sie auch euer Elternleben entlasten und bereichern können.

Heute und nächste Woche geht es um ein #Elternmantra, das in den vergangenen Wochen immer wieder eingeflossen und vorgekommen ist, das mir aber so wichtig ist, dass ich es euch trotzdem noch einmal ganz explizit und mit viel Nachdruck ans Herz legen möchte: „Es ist ein Lernprozess!” oder, wenn euch das besser gefällt: “Wir sind alle Lernende!”. Es geht dabei darum, sowohl bei unseren Kindern als auch bei uns selbst  unsere perfektionistischen Vorstellungen davon, wie es sein sollte, loszulassen und anzuerkennen, dass Lernprozesse ihre Zeit brauchen, nicht linear und oft unvorhersehbar verlaufen und Fehler, Ausrutscher, Nicht-Gelingen ganz einfach dazugehören.

Lernprozesse anerkennen statt Verfehlungen bestrafen
– auf allen Ebenen

Ein Kleinkind versucht sich die Schuhe anzuziehen. Es ist eine schwierige Aufgabe: Welcher Schuh kommt auf welchen Fuß? Wie muss es die Schuhe drehen, damit es hineinschlüpfen kann? Und dann erst die Verschlüsse! Es tut sein bestes, aber der linke Schuh landet auf dem rechten Fuß und die Klettverschlüsse wollen sich nicht durch die richtigen Ösen fädeln lassen. Da schreitet eine erwachsene Person ein und schimpft: “Was soll das??? Du weißt doch genau, dass der rechte Schuh auf den rechten Fuß gehört! Das hab ich dir schon tausend Mal gesagt! Hör zu, wenn du dir nicht die Schuhe richtig anziehen kannst, dann können wir eben nicht mehr in die Spielgruppe kommen!” Das Kind, ohnehin nervlich schon leicht aus der Balance durch die große Herausforderung des Schuhe-Anziehens, bricht in Tränen aus. Na, das hat gerade noch gefehlt: “Da brauchst du jetzt gar nicht weinen! Das hast du dir ganz allein selbst zuschreiben! Hättest du dir die Schuhe halt richtig angezogen!

Wie fühlt sich das beim Lesen an? Ich kann mir vorstellen, dass da eine Welle von Unverständnis für die Worte der erwachsenen Person und von Mitgefühl für das ganz klar ungerecht behandelte Kind in euch aufsteigt. 

 

Andere Situation: Zwei Kinder spielen, die kleine Berta  findet das Auto von der kleinen Amelie unheimlich spannend und schnappt es sich einfach. Das wiederum findet Amelie gar nicht okay. Sie will ihr Auto wieder haben! Weil Berta es jedoch nicht hergibt und sie sich in diesem Moment nicht anders zu helfen weiß, schubst Amelie Berta und reißt ihr dann mit einem Ruck das Auto aus der Hand. Da schreitet Amelies Mama ein und schimpft: “Was soll das??? Du weißt doch genau, dass man nicht schubsen und wegnehmen darf! Das hab ich dir schon tausend Mal gesagt! Hör zu, wenn du nicht brav spielen kannst, dann können wir eben nicht mehr in die Spielgruppe kommen!” Das Kind, ohnehin durch das Auto-Drama ohnehin schon emotional gebeutelt, bricht in Tränen aus. Na, das hat gerade noch gefehlt: “Da brauchst du jetzt gar nicht weinen! Das hast du dir ganz allein selbst zuschreiben! Hättest du das halt mit Worten geregelt, statt gleich auf sie loszugehen!” 

Wie fühlt sich das beim Lesen an? Erschreckend vertraut? Wir haben alle schon so oft vergleichbare Situationen erlebt, ja wie haben wahrscheinlich auch alle schon so oder so ähnlich agiert.

Aber wieso kommt uns die eine Situation so anders vor als die andere? Wieso erscheint uns das Verhalten der Eltern in der ersten Situation absolut unerhört und in der zweiten irgendwie logischer, ja vielleicht sogar gerechtfertigt? Es geht doch in beiden Fällen um Kinder in Situationen, denen sie NOCH nicht ganz gewachsen sind, die in ihrem Bestreben, die Situation dennoch zu bewältigen, abseits von Normen oder Erwartungshaltungen agieren. 

Der große Unterschied ist, dass die meisten von uns sich wesentlich leichter tun, Lernprozesse anzuerkennen – oder überhaupt zu erkennen -, welche die motorische oder intellektuelle Entwicklung betreffen, als solche, die sich auf emotionaler oder sozialer Ebene abspielen. Wir mögen manchmal frustriert sein, weil unser Kind noch immer nicht selber gehen oder sprechen oder sich ohne Hilfe anziehen kann, aber wir werden es ihm seltener zum Vorwurf machen oder versuchen, Lernprozesse mittels positiver oder negativer extrinsischer Motivation zu beschleunigen, als dies bei Lern- oder Entwicklungsprozessen psychischer, emotionaler, sozialer Natur geschieht. 

Ich weiß auch nicht genau, womit das zusammenhängt, dass wir dem Wachstum und der Entwicklung der Seele so viel weniger Bedeutung beimessen, so viel weniger Augenmerk schenken, so viel weniger Geduld entgegenbringen, als dem Wachstum und der Entwicklung des Körpers. Ich denke, es hat viel mit unserer kollektiven Prägung durch die schwarze Pädagogik des neunzehnten/ frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu tun, die uns allen noch in den Knochen steckt, in der es nicht darum ging, die Kinderseele in ihrer Entwicklung zu nähren, zu unterstützen und zu verstehen, sondern darum, sie zu kontrollieren, zu formen, zu zähmen, zu brechen. 

Ohne hier in einen Exkurs abschweifen zu wollen: Was ich mir für die Generationen unserer Kinder und Kindeskinder wünsche, ist, dass ihnen zugestanden wird, dass sie als Wesen, die noch so neu auf diesem Planeten sind, sich ständig in multiplen Lernprozessen befinden, dass sie noch nicht immer wissen können, was wie funktioniert, und dass das Wissen und das Umsetzen noch einmal zwei verschiedene Paar Schuhe sind, dass ihr Lernen anerkannt statt ihr Fehlverhalten bestraft wird. Und zwar ganz gleich, ob es ums Schuhe Anziehen geht oder um den Umgang mit den eigenen Emotionen, ob es ums Rechnen geht oder um den Umgang mit dem Verhalten anderer…

 

“Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht”

Das ist eigentlich ein eigenes #Elternmantra, das wir uns immer dann vorsagen können, wenn wir versucht sind, Prozesse antreiben und beschleunigen zu wollen, statt ihnen die Zeit und den Raum zu geben, die sie brauchen. Ich mag dieses Bild, nicht nur, weil ich es liebe, in der Wiese zu sitzen und mit den Fingern im Gras zu spielen, als würde ich Mutter Erde den Pelz kraulen, sondern auch weil es etwas so Abstraktes so greifbar macht: Wenn ich will, dass das Gras schneller wächst, und daran ziehe, helfe nicht nur nicht, sondern ich schade sogar – im schlimmsten Fall reiße ich es mit der Wurzel aus, oder ich reiße den Halm ab und es muss ein neuer durchtreiben. Wenn ich will, dass es wächst und gedeiht, kann ich dafür sorgen, dass es optimale Bedingungen dafür vorfindet: Nicht zu viel und nicht zu wenig Sonnenlicht und Wasser, die richtigen Nährstoffe im Boden, ein wenig frischer Wind, usw. Dadurch kann ich sein Wachstum fördern und unterstützen. Wachsen und sich entwickeln aber, das muss es ganz alleine und in seinem eigenen Tempo. 

Und genau so ist es auch bei uns Menschen: Entwicklungen und Lernprozesse passieren in in ihrem ganz eigenen Tempo, sie sind nicht immer linear und wenn es mal langsamer voran geht, ist von außen oft schwer erkennbar, woran das liegt – aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in den Phasen, in denen von außen betrachtet nahezu Stillstand, ja vielleicht sogar so etwas wie Rückschritt zu beobachten ist, im Verborgenen gerade ganz viel passiert! 

Als Doula drängt sich mir in vielen Situationen des Lebens der Vergleich mit dem Geburtsprozess auf: Auch hier geht nicht immer alles nach Schema F voran und jedes Kind hat sein eigenes Tempo, in dem es auf die Welt kommen möchte – und wenn es den Geburtshelfer*innen nicht schnell genug geht, und sie die Prozesse beschleunigen zu müssen glauben, richten sie damit oft genug mehr Schaden als Nutzen an, ganz so, als würden sie glauben, das Gras wüchse schneller, wenn man daran zieht. 

Oft wenn ich von angeblich Wunder wirkenden Schlaflern-, Töpfchentraining- oder anderen Kinderdressurprogrammen höre, mit denen angeblich jedes Kind innert einer Woche den angestrebten Entwicklungsprozess durchlaufen und das Ziel erreichen kann, muss ich ebenfalls an diesen Satz denken und werde ein wenig traurig, weil hier Eltern vorgegaukelt wird, es gäbe eine Methode am Gras zu ziehen, die es eben doch dazu bringt, schneller zu wachsen, während das, was im Rahmen dieser Programme passiert, doch nichts mit dem eigentlich angestrebten Entwicklungsprozess zu tun hat. Bestenfalls werden die Kinder dabei wie Zirkuslöwen abgerichtet, schlimmstenfalls aber schlicht und ergreifend gebrochen. Ein Kind, das einem Schlaftrainingsprogramm unterzogen wurde, hat nicht gelernt, sich selbst  zu beruhigen, es ist nicht plötzlich selbstständig und selbstgenügsam geworden – es hat nur gelernt zu resignieren, weil es von seinen Bezugspersonen keine Hilfe zu erwarten hat und seine Gefühle und Bedürfnisse nichts zählen. Ein Kind aber, das in seinen Entwicklungsprozessen anerkannt und begleitet wird, entwickelt jenes Urvertrauen das ihm als sichere Basis für das Entstehen wahrhaftiger Selbstständigkeit dienen wird. 

Und auch das gilt fürs Schlafen ebenso wie fürs Anziehen, Sprechen und Rechnen Lernen und auch für alle Prozesse der emotionalen und sozialen Entwicklung: Wenn unsere Kinder es noch nicht schaffen, all ihre Konflikte auf der verbalen Ebene auszutragen, wenn sie ihren Gefühlen noch nicht immer auf allgemein verträgliche Weise Ausdruck verleihen können, wenn sie die Regeln der Höflichkeit noch nicht kennen – oder auch nicht immer befolgen können, obwohl sie sie schon kennen -, dann wollen wir nicht mehr böse mit ihnen sein, an ihrem Charakter oder unserer Erziehung zweifeln, sondern stattdessen einfach anerkennen, dass sie in diesem Bereich eben noch lernen dürfen und das Unsere dazu tun, möglichst ideale Bedingungen für ihre Prozesse zu schaffen, auf dass sie sich bestmöglich entfalten und gedeihen können.

Mehr zu unseren eigenen Lernprozessen auch und gerade in Verbindung mit unserer Elternrolle gibt es nächste Woche an dieser Stelle! Bis dahin beobachtet doch mal, wie sich euer Blick auf eure Kinder und ihr Handeln verändern darf, wenn ihr sie durch diese Brille beobachtet und den Fokus nicht auf das legt, was anders sein sollte oder sie eurer Meinung nach schon können sollten, sondern auf die Lern- und Entwicklungsprozesse, in denen sie sich gerade befinden.  Viel Vergnügen dabei und bis zum nächsten Mal!

***Herzlichen Dank für die Illustration an Orsolya Fodor (@tamatea16 auf Instagram)***